Es denkt in ihnen

Manche kennen es noch aus der Schule: Auch wenn es in den naturwissenschaftlichen und exakten Fächern mit den Noten mau aussieht, gibt es immer noch die Chance, in den sogenannten Laberfächern wie Religion, Sozialkunde und z.T. auch Deutsch durch andauernde Wortmeldungen und eifrige Unterrichtteilnahme zu punkten, ganz gleich, was für dummes Zeug man dabei vorbringt. Die fünf in Mathe wird dadurch freilich nicht verschwinden. Dieser versuchte Ausgleich unangenehm harter Fakten durch soft skills liegt auch einer ganzen Reihe anderer Phänomene zugrunde. Etwa der Neigung politisch und ökonomisch Verunsicherter zu Esoterik, Sensibilisierungsseminaren, Gruppentherapien und Lebensratgebern aller Unart. Jede Bahnhofsbuchhandlung wartet mit einem Schwall von bestenfalls populärwissenschaftlichen bis komplett hanebüchenen Büchern und Zeitschriften auf, die sich der Sinnkrisen der Reisefertigen mit freundlich-forschen Aufmunterungen zum richtigen Essen, Reisen, Kaufen, Atmen, Denken, Lieben und Leben annehmen. Der Markt für solche postreligiöse Erbauungsliteratur scheint schier unerschöpflich, was nicht zuletzt an der Raschheit liegt, mit der die angebotenen moralischen Wegweiser verwittern und druckfrischen Motivationsnachschub nötig machen.

Diese profitable Halbwertzeit der Denkware muss auch den Machern der phil.COLOGNE aufgefallen sein. Laut Programmheft „begegnet“ das „Nachdenken energized by LANXESS“ „nach dem erfolgreichen Auftakt“ der vorjährigen Veranstaltungsreihe nun wieder „dem stärker werdenden Interesse an philosophischen Fragen“. Dies ist selbstredend „inspirierend, vielfältig, orientierend, mit spannenden Denkerinnen und Denkern“. Die kollektive Nase vor dem „oberflächlichen Talk“ rümpfend will man sich in den voraussichtlich ausverkauften Weihestätten des Kölner Kulturbetriebs versammeln, um den „vertiefenden Dialog über die drängenden Probleme unserer Zeit“ zu führen. Dieses brain fracking wird von solchen illustren Mäzenen kritischen Denkens wie der Sparkasse KölnBonn („Gut für die Kultur. Gut für Köln und Bonn.“) oder dem Sender WDR 5 („…denn Denken hat was!“) gefördert. Die verheißene Vertiefung des Dialogs wird aber wohl eher durch Zusammenarbeit mit der Identity Foundation zustande kommen („Bisherige Forschungsthemen der Stiftung waren unter anderem die Entwicklung von Eliten, das Selbstverständnis der Deutschen und Aspekte der persönlichen Entfaltung des Menschen“). Es entfaltet sich in ihrem Beitrag zum Programmheft denn auch schnurstracks in abgründige, aber keineswegs unbekannte Tiefen hinab, in welchen wie in Platos Höhlengleichnis an den steinernen Wänden illusorische Schatten herumwandern und Stimmen widerhallen, die von „Gestaltungskraft“, „Potentialentwicklung“ und „Identitätsbildung“ raunen. Die Identity Foundation ist ein echo room verrückt gewordener Herrschsucht, die sich des bereits von den Nazis gründlich und vielleicht nicht ganz grundlos geschändeten Meister Eckhart als Ikone für „progressives Verständnis menschlicher und geistiger Reifung“ bedient.

Was läge in Anbetracht der Aura tiefer Innerlichkeit des großen Mystikers näher, als das Festival mit der Frage zu eröffnen, wie viele Urlaubsflüge „mir zustehen“? Denn leben derzeit nicht alle in so gesicherten wie auskömmlichen Arbeitsverhältnissen mit Urlaubsanspruch, dass sich solch ein Problem als Allererstes aufdrängt?

Selbstverständlich schürft ein „Festival der Philosophie“ noch tiefer und fragt nach dem „guten Leben.“ Dass das „gute Leben“ auf sich warten lässt, dürfte jedem schmerzlich vor Augen stehen, der in letzter Zeit auch nur einmal die Nachrichten gesehen hat. Zumindest aber erkennt der blitzgescheite Hartmut Rosa den globalen Grund des ganzen Jammers: Alles geht viel zu schnell vonstatten! Eine Erkenntnis, die einen schönen Appell für lange aufgeschobene Vorhaben abgibt: Man könnte ja beim Yoga entschleunigen oder mittels irgend einer anderen Kunst die eigene Seele zu einem gepflegten kleinen Bonsai zusammenschnitzen.

Auch Rahel Jaeggi weiß, unsere Welt ist nicht in Ordnung. Sie nimmt wahr, „dass mit den Lebensformen des Kapitalismus etwas nicht stimmt“ und dass die Philosophie endlich einen Maßstab bräuchte, um gute von schlechten Lebensformen zu scheiden. Jaeggi geht mit gutem Beispiel voran; sie hat die gute professorale Lebensform bereits gefunden: Kapital und Souveränität so zu kritisieren, dass das individuelle und kollektive Irrewerden der gesellschaftlichen Totalität im Nazifaschismus nicht den Ausgangspunkt, sondern ledigliches Ornament ihrer Arbeit bildet.

Rosa und Jaeggi ahnen womöglich, dass weder die Bahncard 100 noch Yoga das „gute Leben“ besorgen werden und keine individuelle Lebensreform vom prekären Dasein befreit, dass niemand seines eigenen Glückes Schmied ist, und dass die so chaotisch-irrationalen Produktions- wie gewaltsamen Herrschaftsverhältnisse jene Zustände hervorrufen, an denen volkserzieherische Flugreisen-Ethiker und Gerechtigkeitsvermesser verzweifelt gläubig laborieren. Dass ihre Kollegen samt Gefolge rührige Ideologen sind, könnte Rosa und Jaeggi anhand der elementarsten Aussagen der Denkschule aufgehen, die sie fortentwickelt zu haben behaupten, aber sie sind zu sehr damit beschäftigt, mundgerecht zerstückelte Ideechen für den Hausgebrauch zu servieren. Die kritisch sich nennenden Theoretiker schenken einem meinungshungrigen Publikum den gleichen, so egozentrierten wie ichschwachen Betroffenheitsjargon ein, der noch jeden staats- und gesellschaftskritischen Gehalt zu zermalmen vermag, insofern er während ihrer akademischen Ochsentour noch nicht zur betriebsgemäßen Genüge ausgemerzt worden ist.

Das Programm der phil.COLOGNE bedient das entsprechende volkstümliche Bedürfnis der postnazistischen Deutschen: einer unbegriffenen und zutiefst verinnerlichten Herrschaft mit hingebungsvollem Idealismus zu dienen und sich als Aktiv- bzw. Wutbürger gleichsam berufen zu fühlen, die Welt mittels politisch korrekter, ökologisch nachhaltiger, ökonomisch zinsabstinenter und penetrant pädagogischer Direktiven und Kaufentscheidungen am grundgütigen deutschen Wesen genesen zu lassen.

Die angetretenen Philosophen tragen nicht alle Schuld an den besinnungslos besinnlichen Schwatzrunden dieser Veranstaltungen. Anders als die Universität, die zumindest dem exzellenzheischenden Selbstverständnis nach von allzu volkstümlichem Räsonieren einen gewissen Abstand halten muss, ist die phil.COLOGNE ihrem erstaunlich zahlungswilligen Publikum demokratisch ausgeliefert. Sie dokumentiert, was der Markt anrichtet, wenn das Denken unvermittelt als „Wissen“ Warenform annimmt. Die notwendige Denke von Subjekten, die sich auf dem kapitalistischen Markt, der sie schuf, unablässig feilbieten und miteinander konkurrieren müssen, bildet notwendig einen Meinungsmarkt, welcher jede noch so unversöhnliche Kritik zur allgemein austauschbaren Spielmarke erniedrigt. Sie erzeugen - „sie wissen es nicht, aber sie tun es“ (Marx) - in zutiefst sinnlosen Krisen sinnstiftende Ideologie bzw. Identity, um es mit der gleichnamigen Foundation zu sagen. Dieses Bedürfnis, „Übers Ego zum Wir“ zu gelangen, diese „Sehnsucht nach Sinn“ (So ein paar beworbener Buchtitel ihrer „Schriftenreihe zum Meister Eckhart Preis“) brennt auch dem Klientel der Kölner Philosophietage auf den Nägeln. Dem wäre hiermit eine Produktwarnung entgegenzusetzen: Es geht auf der phil.COLOGNE nicht um philosophische Erkenntnis, denn diese würde eine „rücksichtslose Kritik alles Bestehenden“ (auch Marx) voraussetzen. Sie sollte dem dumpfen Empfinden der Unterminierung, das die Bürger um- und in die guten Stuben der Ideologieproduktion treibt, nicht auch noch die Weihen des höheren Blödsinns verleihen, sondern „den wirklichen Druck noch drückender machen, indem man ihm das Bewußtsein des Drucks hinzufügt“ (ditto). Philosophie nach ihrem durch Auschwitz erwiesenen geschichtlichen Scheitern kann nur noch eine radikal negative sein.

Als Teilnehmer des Markts hat sich jeder als Glücksritter zu wähnen. Arbeitslosigkeit und Bankrott, sexuelle Frustration und auch so manche physische und psychische Krankheit müssen laut den Glücksratgebern, die sich per gesalzenem Eintrittspreis vom billigen Ramsch der Bahnhofbuchhandlungen absetzen wollen, nur eine Folge individuellen Fehlverhaltens oder der falschen Einstellung zum „Leben“ überhaupt sein. Selbst radikale Kritik am falschen Ganzen droht stets, sich flugs zum Trostpflaster umfunktionieren zu lassen, welches mittels klebriger Ressentiments an der dünngewordenen Bürgerhaut haftet. Der gekränkten deutschen Seele behagt es zuverlässig, sich als von Finanzspekulanten, Technokraten und sonstigen volksfremden Brunnenvergiftern verfolgte Unschuld zu empfinden. Und es wäre ja schließlich nicht Köln, wenn es nichts zu Schunkeln und keinen Nubbel zu verbrennen gäbe! Den unfreiwilligen Parodisten des Bildungsbürgertums – den Gästen der phil.COLOGNE – ist da kein Animateur zu teuer. Die Illusion will gepflegt und mit intellektuell klingenden Schlagworten aufrechterhalten werden, dass sie ihrer Ohnmacht tapfer trotzen können, und die Aussicht, sich in nicht allzu anstrengenden Betrachtungen darüber zu ergehen, dass man über sein eigenes Leben endlich frei und glücklich im ökologisch nachhaltigen Paradies verfügen könnte, wenn es nur die erzbösen 1% nicht gäbe, lässt sie zuhauf in die kulturellen Bedürfnisanstalten Kölns strömen.

Und so senkt sich um die potenziellen Möllemänner und Sozialfälle – also alle – eine emsig schnatternde, von Verwertungs- und Beherrschungsimpulsen widerhallende Schwarmintelligenz aus heillosen Therapeuten und philosophischen Plünderern. Ob ihre Manipulationstechniken wirklichen Erfolg haben werden, den sie, dem Heizdeckenverkäufer auf der Kaffeefahrt ähnlich, nie ganz ohne drohenden Unterton verheißen, wird zwar lautstark beteuert, ist jedoch alles andere als garantiert. Aber mit fast absoluter Gewissheit ist garantiert, dass die Anforderung sowohl an die bildungsfernen wie -beflissenen Schichten zunehmend verschärft werden wird, „der ganzen ökonomischen Scheiße“ (Sie wissen schon, wer) selbsttätig und vorauseilend das Hohelied der ehrlichen Arbeit, des selbstlosen Engagements und des Lebens im Einklang mit der Natur vorzusingen und mit gutem Beispiel voranzugehen. Das sogenannte Glück, verstanden als wahlweise philosophisch akkreditierte oder hirnphysiologisch in Dopamin- und Serotoninausschüttungen messbare Größe, lässt sich durch kognitive Verhaltenstherapie oder eben den von der phil.COLOGNE gegen nicht wenig Barschaft angebotenen Nachdenkhäppchen bestimmt noch steigern. Doch wozu sich die Subjekte optimieren, in welche monströse Gesellschaft diese sich stets auf Neue (wieder-)eingliedern müssen, bleibt unter allfälligen Gemeinschafts- und Verzichtsbeschwörungen und ständigen, pfäffischen Appellen à la „Du musst dein Leben ändern“ (Sloterdijk), in Wahrheit unkritisiert und ausgeblendet. Und daran soll und will auch die phil.COLOGNE nichts ändern.

Dass es nicht zu mehr reicht als zu einem Subjektivismus, der gar nicht mehr weiß, zu welcher Welt er gehört, bringt Peter Sloterdijk auf den Punkt. Er vertritt eine angeblich „überraschende wie besorgniserregende“, tatsächlich höchst unfrische Behauptung: „Der Mensch ist vor allem ein korrumpierbares Tier.“ Bevor aber noch jemand Hand an das Privateigentum oder den Staat legt, um die der politischen, ökonomischen und moralischen Korruption zugrunde liegende brutalisierende Konkurrenz abzuschaffen, „bedarf es einer grundsätzlichen Umstellung unseres Selbstbildes, zu der das Buch erste Schritte aufweist.“ Zugegeben, es fällt angesichts der katastrophenbedingt abgesagten Aufhebung leichter, zwecks Korruptionsbekämpfung und moralischer Erneuerung die gierige, egoistische Hand ins Portemonnaie zu legen und 26,95 € für Sloterdijks Buch samt 20 € für dessen Werbeveranstaltung willig hinzublättern.

„Die eigene Vergangenheit ist nicht begehbar“ (Martin Walser, NSDAP-Mitgliedsnummer 9742136)

Die „grundsätzliche Umstellung unseres Selbstbildes“ darf man schlechterdings als Motto des deutschen Selbstgesprächs nach der Vernichtung der europäischen Juden bezeichnen, die trotz der wichtigen, kritischen Beiträge alliierter Bomberverbände fast restlos verwirklicht wurde. Im unverkrampften Heute, wo sich niemand mehr schämt, Deutscher zu sein - zumal Deutschland sich bei manchen internationalen Umfragen als beliebtestes Land der Erde erweist - scheint die Zeit reif, die deutsche Frage mit deutscher Gründlichkeit, also philosophisch, zu beantworten.

Ein Glück also, dass Martin Walser noch lebt, welcher als einstiges NSDAP-Mitglied, Erfinder der linguistischen Wunderwaffe „Auschwitzkeule“ und Verfasser des erfolgreichsten, wohl judenfeindlichsten Romans der Bundesrepublik die Frage „Gibt es ein gutes Vergessen?“ sachgerecht beantworten kann. Allerdings möchte die phil.COLOGNE nicht allein das Schlussstrich-Bedürfnis der zusehends schwindenden Wehrmachtsgeneration repräsentieren. So bringt Aleida Assmann den Nachgeborenen den neuesten vergangenheitsbewältigenden Zungenschlag bei, der da beinhaltet, dass die Verdrängung der Verbrechen von Walsers alten Kameraden dem neuen Deutschland nicht hilft, das sich „im Bewusstsein seiner Verantwortung“ zu Auschwitz zu bekennen hat. Vielmehr müssten die Deutschen ihre Identität darauf bauen, das Gründungsverbrechen beider Republiken und somit des wiedervereinigten Deutschlands als Teil ihrer Geschichte konstruktiv anzunehmen. Wahrhaftig, es gibt Dinge, die so falsch sind, dass jeder identitäre Bezug auf sie unweigerlich zum Irrsinn führt!

Man kann der phil.COLOGNE kaum vorwerfen, ihr Versprechen, „vielfältig, inspirierend, orientierend“ sein zu wollen, nicht einzulösen. Tatsächlich stehen bei ihr „vielfältige“ Themen und Ansätze völlig beziehungslos nebeneinander und vermitteln dem unbedarften und hochgradig (be-)dürftigen Gast, der bei jeder Veranstaltung eine neue Stunde Null erlebt, die nötige, beflissene Demut vor den großen Themen und den betont prominenten Geistesgrößen.

Daher ist es auch kein Wunder, wenn das Kölner Philosophiefest mit der „Inspiration“ einen Vorgang aus der Religion herbeiruft, sucht doch das Bildungsbürgertum nicht nach der Wahrheit, die es mit der Bereitschaft zu tun hätte, die Vernunft zu gebrauchen, auf die man so gerne pocht, sondern nach spontaner Eingebung und intimer Erleuchtung. Nun ist die Philosophie, anders als die ungläubige Frömmelei, dem Zweck der „Selbstverwirklichung“ tatsächlich ein ziemlich lästiges, weil begriffliche Klarheit beanspruchendes Unterfangen. Ob ein Mensch, dem auf der phil.COLOGNE so allerlei fatal vorgekaute Ideen kommen, wirklich philosophiert, ist daher ungewiss. Allerdings dürfte man für die Banalität, dass Philosophie eine etwaigen Intuitionen und Offenbarungen nicht besonders zugetane Anstrengung ist, keine 20 Euro verlangen. Doch wer wäre man - wir hatten es schon - um als Philosoph etwas gegen die Naturgesetze des Marktes auszurichten?

Wie ein „Festival der Philosophie“ es schaffen soll, „orientierend“ zu sein, wo es doch so konzeptlos „vielfältig“ bleibt, bleibt das gewiss inspirierte Geheimnis der Veranstalter. Die Gesamtkonstellation der phil.COLOGNE legt aber nahe, dass gerade durch die potpourrihafte Inkohärenz des Angebots ein supermarktförmiges Programm entstehen soll, das den vereinzelten Subjekten, die in den angebotenen Gedankenfüllseln herumwühlen dürfen wie im Sommerschlussverkauf unter Socken und Unterhosen, in schwierigen Zeiten etwas Halt gibt oder zumindest ein brauchbares Schnäppchen für die anstehende Krisensitzung für sie abwirft. Und falls dem nicht ganz so ist und schon bei der nächsten Grillparty die nachgeplapperten Allerweltsweisheiten im Zusammenprall mit dem Schmonzes der Anderen sofort zu zerbröckeln beginnen, enthält das diesjährige Motto der Nachdenk-Energizer ja bereits einen Hinweis darauf, dass man fest damit rechnet, den geistigen Bankrott der Bürgerdarsteller weiterhin abschöpfen zu können:

„Die Suche geht weiter…“

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