Text zur Veranstaltungsreihe

Staatskritik im nachbürgerlichen Zeitalter
Einige Überlegungen zu einem drängenden Problem

Befragte man die Deutschen zum Thema Staatskritik, so würde ihnen sicherlich allerhand einfallen, über das zu meckern ihnen ein Anliegen wäre. Von der Steuerpolitik über Straf- und Ausländerrecht bis hin zur so genannten „Nibelungentreue“ gegenüber den USA fände der berüchtigte Otto Normalverbraucher allerhand Themen, die ihm Anlass für stundenlanges Mosern und Klagen gäben. Sein Motiv jedoch ist nicht die Abschaffung jeglicher Herrschaft und Ausbeutung, sondern die Errichtung eines endlich gerechten, d.h. ihn selbst sattsam versorgenden und alle anderen ausschließenden Staates. Der Vorwurf, der Staat gehorche anderen Mächten und nicht der eigenen narzisstischen Willkür, sei gar ein Büttel des Finanzkapitals oder der USA und bevorteile dazu „Sozialschmarotzer“, „Heuschrecken“ und anderes arbeitsscheues Gesindel, zielt darauf ab, den Staat als strafende und Beute verteilende Gewalt zu verewigen. Dass demgegenüber materialistische Staatskritik aufs Ganze geht und nicht bestimmte Erscheinungsformen des Staates ins Visier der Kritik nimmt, um den Staat letztendlich zu verbessern, sondern ihn ein für allemal abschaffen will, ist nicht nur unter Linken altbekannt. Wenn es aber darum geht, diese scheinbar banale Erkenntnis in Bezug zur Tagespolitik zu setzen, fangen die Probleme an. Grundsätzlich gibt es zwei Wege, sich als linker Staatskritiker zur Politik zu verhalten: Entweder man inszeniert sich als Theoretiker, der die Reinheit der Lehre bewahrt und sich damit zwangsläufig vor den Problemen des Alltags in dürre Abstraktionen flüchtet – womit niemand etwas gewonnen hat außer dem Theoretiker selbst, der sich die Finger gar nicht erst schmutzig macht – oder man engagiert sich gar eifrig in Parteien und Verbänden, um, wie es dann heißt, eine Politik des „kleineren Übels“ zu betreiben – was in nahezu allen Fällen aufs bloße Mitmachen hinausläuft.

Der Staat des Kapitals

Beide, der Antipolitiker und der Politiker, meinen es gut. Das Problem, das sie haben, ist die Allgegenwart des Kapitals, das alles und jeden zwangsweise integriert, weil es keine bloße Wirtschaftsform ist, sondern ein umfassendes Herrschaftsverhältnis, das den Einzelnen in ein – wie der junge Hegel das nannte – „mechanisches Räderwerk“ verwandelt. Der Staat ist nicht etwas dem Kapital äußeres, sondern es selbst. Wenn die vereinigten Sozialdemokraten aller Länder ständig vom dringend herbeizuführenden „Primat der Politik“ daher salbadern, zeigt das nur, dass sie Marx nicht nur nie verstanden, sondern auch nie gelesen haben. Der Staat ist die politische Seite des Kapitals, wie das Kapital die ökonomische Seite des Staates ist. Als Organisator der Spaltung der Gattung in notwendige und überflüssige Menschen reproduziert der Staat die kapitale Herrschaft im Ausschluss der nicht zur Nation gehörenden, wie das Kapital das Prinzip der Nation durch die Unterscheidung von Arbeitskraftbehälter und Reservearmee exerziert. Wie Marx gezeigt hat, ist die Eigenschaft, Staatsbürger zu sein, den Individuen nichts von Natur aus zukommendes, ebenso wenig, wie die Neandertaler bereits an Fließbändern oder in Büros geackert haben, sondern gleichermaßen Folge und Bedingung eines sozialen Verhältnisses, in dem Menschen ihre Rechte dem Umstand verdanken, Wert produzieren zu können. Umgekehrt gilt dasselbe: Wer Rechte hat, muss auch arbeiten, wenn er überleben will. Die allgemeine Erklärung der Menschenrechte hält dieses doppelte und sich wechselseitig ergänzende Prinzip ideell als „Recht auf Eigentum“ (Artikel 17) und „Recht auf Arbeit“ (Artikel 23) fest. Mit anderen Worten: Jedes Recht gründet, wenn es Geltung haben soll, in der Herrschaft des Kapitals.

Weil das Recht die Allgemeinheit kapitaler Herrschaft gleichermaßen zum Ausdruck bringt und gegen den Einzelnen durchsetzt, ist es universal. Jedes Recht ist zugleich allgemein gültig, behält sich aber für Notfälle den Widerruf vor. Sei es die Entmündigung und Entrechtung, ja sei es der schwer zu legitimierende, aber allemal mögliche Ausschluss Einzelner aus der Nation, oder sei es gar der Staatsnotstand, in dem jedes Recht mit Rücksicht auf den Erhalt des Ganzen kassiert werden kann – die Rechtsordnung bleibt stets gebunden an den Souverän, die politische Gewalt, die Rechte generös austeilt und wieder entzieht. Damit bleibt die Sicherheit des Staatsbürgers immer prekär. Der Bürger, den die Angst vor dem Ausschluss schier zerreißt, wird zum Otto Normalverbraucher, also zum potentiellen Volksgenossen, der nur darauf wartet, andere zu denunzieren und zum Abschuss freizugeben, um sich als treues und wertvolles Glied des Ganzen zu beweisen. Er nimmt den Staat als das wahr, was er nur der Tendenz nach ist: als Bande. Je tiefer sich der Bürger ins Krisenbewusstsein verstrickt, desto weniger gilt ihm die Allgemeinheit des Rechts als etwas schützenswertes. Im geistigen Vorlauf der Krise, dem Heideggerschen „Sein zum Tode“, fiebert der Bürger dem Ausnahmezustand entgegen, in dem er von seinem Leiden an den Widersprüchen kapitaler Vergesellschaftung negativ erlöst zu werden hofft: sei es durch den eigenen Opfertod fürs Kollektiv, sei es durch die Vernichtung der als Übeltäter ausgemachten Ausgeschlossenen.

Nachbürgerliche Gesellschaft

Die Tendenz, in den Bürgern selbst die Sehnsucht nach einer negativen Aufhebung der bürgerlichen Gesellschaft hervorzubringen, konnte sich bereits einmal in der Geschichte vollends durchsetzen. Im Nationalsozialismus war die Volksgemeinschaft nicht bloß Propaganda, sondern im allerbrutalsten Sinne Wirklichkeit. Mit der Zwangsintegrierung aller konkurrierenden Gemeinschaftsmodelle – von der Arbeiterbewegung über Kirchengemeinden bis zur Familie – ins repressive Kollektiv der Deutschen wurde zugleich dem Individuum und allen bestehenden Rückzugsräumen der Kampf angesagt. Alle Eindämmungen und Vermittlungen des Konkurrenzverhältnisses wurden kassiert und damit zugleich ihre grausame Dynamik vollends entfesselt. Im Massenmord an den Juden wurde die Volksgemeinschaft verwirklicht, indem die Juden als „Gegenrasse“ (Hitler), als angeblich mit Haut und Haaren der Einheit der Deutschen entgegenstehendes Prinzip ermordet wurden. Die Dialektik bürgerlicher Gesellschaft ist im Nationalsozialismus auf barbarische Weise zum Stillstand gekommen, weil der NS-Staat die Bürger in Volksgenossen und die Juden in Tote verwandelte. In Deutschland hat sich gezeigt, dass die Existenz von Staat und Kapital die Option barbarischer Aufhebung erzeugt, die die Vermittlungen kapitaler Herrschaft – Recht und Markt – zugunsten unmittelbarer Unterwerfung und Vernichtung abschafft und wahnhaft eine Heilung vom Krisencharakter der politischen Ökonomie durch Vernichtungskrieg und Massenmord verspricht.

Angesichts des – global betrachtet – Scheiterns der bürgerlichen Gesellschaft, angesichts einer Welt also, in der die Mehrzahl aller Staaten ohne bürgerliche Klasse, ohne die Loslösung von der „Blutsbande“ (Marx) und ohne eine Ökonomie, die einer nennenswerten Anzahl von Individuen ein selbstbestimmtes Leben innerhalb der Grenzen wertförmiger Warenproduktion ermöglicht, auskommt, stellt sich die Frage der negativen wie positiven Aufhebung bürgerlicher Gesellschaft neu. Weil nur diese Form der Gesellschaft historisch Individuen hervorgebracht hat, die als autonome und mit Egoismus ausgestattete Subjekte überhaupt die Forderung nach einer kommunistischen Revolution im Sinne einer „freien Assoziation der Individuen“ aufstellen können, ist kommunistische Kritik dezidiert bürgerlich, d.h. westlich. Sie will aber zugleich die emanzipatorischen Potentiale der bürgerlichen Gesellschaft entfalten und verwirklichen, also die bürgerliche Gesellschaft bestimmt überwinden. Sie muss ihre revolutionären Bemühungen daher zwangsläufig aufs Individuum richten, das sie gerade nicht – wie die Postmodernen wünschen – vernichten, sondern in seine Freiheit einsetzen will. Versucht sie, eine Revolution in einer Gesellschaft durchzusetzen, die noch (oder wieder) fest in Strukturen unmittelbarer Herrschaft und ursprünglicher Identität verhangen ist, so kann ein solcher Umsturz immer nur gegen solche vermeintlich naturwüchsigen Gemeinschaften stattfinden – was auf eine Interessenskongruenz zwischen Neokonservativismus und Kommunismus hinausläuft. Wo das Individuum erst noch gegen Familien- und Clanstrukturen durchgesetzt oder verteidigt werden muss, haben alle Versuche, eine kommunistische Assoziation zu gründen, einen schweren Stand – wie die Geschichte so genannter nationaler Befreiungsbewegungen in aller Hässlichkeit völkischer Mobilmachung gezeigt hat. Die revolutionäre Strategie nimmt daher die schon an sich skandalöse, keinesfalls eindeutig geographisch bestimmbare Zweiteilung der Welt in bürgerliche und nachbürgerliche Gesellschaften ernst und verfährt zugleich offensiv und defensiv: Sie verteidigt das bürgerliche Individuum gegen alle Versuche negativer Aufhebung und geht zum Angriff auf die herrschende Ordnung über.

Das Scheitern nachholender Modernisierung

Im Nahen Osten als einer dank des reichhaltigen Erdölvorhabens für die Ökonomie des Westens wichtigen Region drückt sich das Scheitern nachholender Modernisierung politisch in autoritären Regimes aus, die ihre Schreckensherrschaft unter Rekurs auf die Verfallsformen bürgerlicher Modernisierungsideologie legitimieren. Längst aber hat der arabische Nationalismus seinen Glanz verloren, nämlich seit bekannt ist, dass er für die allermeisten nicht zu Reichtum und Wohlstand führt. Die mit dem Modernisierungsprozess verbundene Enttäuschung schlug in den letzten dreißig Jahren zunehmend und unter reger Propagandatätigkeit islamischer Fanatiker in antibürgerlichen Hass um. All jene irrationalen Traditionen, die den Einzelnen von aller Verantwortlichkeit und Freiheit entbinden, ihn aber dafür in eine scheinbar ursprünglich gewachsene Gemeinschaft eingliedern, erleben seit Beginn der Siebziger Jahre einen ungeheuren Siegeszug. Und das keineswegs nur im Nahen Osten: Auch in Lateinamerika, in Venezuela etwa, wird das Loblied aufs repressive Kollektiv gesungen und das Individuum als Erfindung des Imperialismus gegeißelt. Weil aber die Identität der Gemeinschaften sich dort größtenteils noch immer auf westliche Konzepte wie Sozialismus und Nationalismus stützt, erscheinen sie im Vergleich zur Terrorherrschaft von Hamas und Co. als vergleichsweise moderat. Das Bündnis Venezuelas mit dem Iran, das zunehmend die Verteufelung von Alkohol, freier Sexualität und zersetzender Kunst in die Gesellschaft einführt und immer zielsicherer einer reinen Willkürherrschaft entgegen eilt, lässt schon jetzt befürchten, was passiert, wenn sich die lateinamerikanischen Gesellschaften radikalisieren sollten. Der Islam als Identität der sich ausgeschlossen und verraten wähnenden Opfergemeinschaft ist der neue Stern am Himmel der Depravierten, obgleich er nichts zu bieten hat, was mit Glück im emphatischen Sinne noch etwas zu tun hätte.

Derart total ist das Scheitern der bürgerlichen Gesellschaft im Orient, dass bereits jeder Anflug von Hoffnung auf ein besseres Leben als Verrat am Kollektiv abgeurteilt und bestraft wird. Weil schon die universelle Gültigkeit und die menschliche Herkunft des Rechts den Moslems als Blasphemie gelten und es die Voraussetzungen für eine substantielle Unterscheidung zwischen Individuum und Kollektiv bereitstellt, trachten sie nach einer Abschaffung jedes weltlichen Staates. Als Inbegriff der Gotteslästerung gilt ihnen Israel, weil es nicht nur ein Rechts-, sondern auch noch ein jüdischer Staat ist, der ihrem Wahn zufolge niemals existieren dürfte. Der Kampf gegen Israel schweißt die Moslems als Umma zusammen, die „Befreiung Jerusalems“ von den Juden wird mit der Heilserwartung einer neuen, messianischen Ära verknüpft, in der nur noch Gott Souverän ist. Diese Utopie der Alleinherrschaft Allahs ist die historische Aufhebung der Religion als zur Erlösung treibende Kraft, weil schon jetzt anhand der Worte und Taten der Anhänger Allahs zu erkennen ist, dass die Utopie vollkommen im endlosen Blutvergießen, in Folter, Mord und Totschlag aufgeht. Insofern ist die Wiederholung von Auschwitz, welche die Gotteskrieger aus Teheran, Islamabad und Gaza-Stadt, aber eben auch aus London, Paris und Köln, durchzuführen versuchen, Auftakt und Sieg des Heiligen Krieges zugleich. Die unbedingte Solidarität mit Israel, die seine Verteidigungsmaßnahmen gegen seine Todfeinde ausdrücklich einschließt, und die Kritik von Zuständen, in denen es Staaten gibt und geben muss, sind somit ein- und dasselbe. Alle Staatskritik, die Israel seine Waffen aus der Hand schlagen will, ist nichts weiter als Propaganda der Vernichtung. Erst ein Zustand, in dem die Gewaltverhältnisse nicht mehr durch den Staat, sondern durch Vernunft geregelt sind, vermag das Absterben des überflüssig gewordenen Rechts aus sich selbst hervorzubringen. Sicherheit ohne Recht, Wohlstand ohne Arbeit, Gesellschaft ohne Zwang, das wäre – in einem Wort – Kommunismus.

Köln, 22. April 2008

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