Interview - PDF-Version

Allerorten herrscht Unsicherheit. Die Regelmäßigkeit von Terroranschlägen in Europa, das neoimperialistische Gebaren Russlands und der Türkei, die Flüchtlingskrise und ihre innenpolitischen Langzeitfolgen, der Aufstieg des Iran zur Ordnungsmacht, die fortgesetzte Bedrohung Israels, die Fragilität der Europäischen Union sowie die Wahlsiege rechtspopulistischer Parteien hinterlassen bei vielen das Gefühl, in einer Zeit gefährlicher Umbrüche zu leben – mit ungewissem Ausgang. Da sind natürlich Gesellschaftskritiker gefragt, die nicht nur sich, sondern auch den weniger Engagierten und Belesenen erklären, was Sache ist. Da die Georg-Weerth-Gesellschaft Köln (GWG) zwar unbedingt die Denunziation schlechter Zustände befördert, aber nicht für sich beansprucht, in jeder Minute der Vorgeschichte der Menschheit zu wissen, wohin die Reise geht, hat sie sich vor kurzem dazu entschlossen, eine Gruppe mehr oder weniger nahestehender Mitstreiter einzuladen, um von diesen zu erfahren, wie die aktuellen Entwicklungen einzuschätzen und zu bewerten sind.

Anfang Januar 2017 war es dann soweit: In der altehrwürdigen Kölner Weinstube Bacchus kam es zur großen Aussprache. Anwesend waren Detlev, ein langjähriger Aktivist der antideutschen Szene, der Bekannte in der Hauptstadt hat; Ralf, der in einem lokalen Bündnis gegen den Antisemitismus streitet; Markus, der einzelgängerisch staatskritische Pamphlete veröffentlicht und Hausverbot im lokalen Autonomen Zentrum hat; Thorsten, der nur zufällig gerade in Köln ist, weil er ansonsten als Journalist durch die Welt tingelt; Peter, der den Verband Junge Transatlantiker in der CDU gegründet hat und sich immer wieder mit meinungsstarken Analysen medial zu Wort meldet; sowie Joseph, der als kritischer Intellektueller das Politische und die ästhetische Erfahrung eng ineinander verschränkt weiß und daraus radikale Konsequenzen zieht. Gemein ist ihnen allen – und Voraussetzung für die Einladung – die Solidarität mit dem jüdischen Staat Israel sowie die Gegnerschaft zu den vier großen Totalitarismen der Moderne, namentlich Stalinismus, Faschismus, Nationalsozialismus und Islamismus.

 

 

GWG:             Guten Abend, schön, dass ihr da seid. Ich will gar keine lange Vorrede halten. Die Georg-Weerth-Gesellschaft Köln, die ich heute abend vertrete, hat ein paar Fragen zusammengestellt, die wir gerne von euch beantwortet hätten. Zunächst mal aber: Sind alle mit ausreichend Wein ausgestattet?

 

(Zustimmendes Gemurmel.)

 

Ralf:              Ich hab mein Zitronenwasser, das reicht mir.

 

GWG:             Gut, dann können wir loslegen. Also zunächst mal würde mich interessieren, wie der Wahlsieg Donald Trumps außen- und innenpolitisch zu bewerten ist. Was bedeutet es, dass jemand wie er Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika werden kann?

 

Detlev:          Das weiß man noch nicht, insofern würde ich zunächst mal all den Apokalyptikern, Schwarzmalern und anderen Antiamerikanern das Maul verbieten wollen. Generell ist aber davon auszugehen, dass seine Präsidentschaft im Vergleich zu der Obamas positive Effekte zutage fördern wird. Trump ist erwiesenermaßen gegen den Islam und gegen den Iran-Deal. Er befürwortet die Stärkung republikanischer Souveränität, wie sich nicht zufällig daran zeigt, dass er einen Unterstützer Israels wie David Friedman zum US-Botschafter in Israel ernannt hat, dessen Hauptstadt bald hoffentlich auch von den USA offiziell anerkannt wird.

 

Markus:         Klar, dass ihr euch sofort wieder den Kopf des Souveräns zerbrecht anstatt ihn zu kritisieren. Bei aller Unterstützung Israels darf man doch nicht vergessen, dass die radikale Kritik der Logik der Staatlichkeit das sine qua non der Befürwortung Israels ist. Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet. Das wusste der Nazi Carl Schmitt wie der lächelnde Multimillionär Donald Trump, und beide kalkulieren, dass im Ernstfall die Krise nur durch die Schaffung einer Volksgemeinschaft zu retten ist. Und in der haben die Juden bekanntlich keinen Platz.

 

Joseph:           Markus, das ist doch viel zu abstrakt gedacht. Hitler = Trump, das funktioniert nicht. Du darfst die Resistenzkraft der amerikanischen Kultur nicht vergessen. Es ist eben kein Zufall, dass die Shoah von den Deutschen verübt wurde und nicht von den Amerikanern. Wenn man über Plattitüden hinauswill, gilt es, Souveränität vom Angelpunkt des individuellen Lebens her zu betrachten. Schützt der Souverän das Leben, weil er es kapitaler Ausbeutung unterwerfen will, oder vernichtet er es, weil er dem Wahn nicht mehr standzuhalten vermag? Das ist die Unterscheidung zwischen Behemoth und Leviathan und nur vor diesem Hintergrund lässt sich die Wahl Trumps angemessen beurteilen. Alles kulminiert in der Frage, wie Israel als zugleich Inbegriff und Dementi des Leviathan am besten geschützt werden kann.

 

Thorsten:      Ein bisschen komplizierter ist es schon als die Alternative Leben schützen oder Leben vernichten. Es gibt ja noch andere Möglichkeiten, etwa die, überhaupt nichts zu tun. Und das ist bei Trumps Administration der Fall, die Obamas Isolationismus konsequent fortführt. Schon der hatte ein Machtvakuum geschaffen, das die Achse Moskau-Teheran-Damaskus gerne ausfüllte. Und bei Trump geht das nun so weiter. Insofern kann es auch ernstlich nicht verwundern, dass Trump so ein großer Putin-Fan ist. Trump ist Obama II.

 

Ralf:              Ich bin empört, wie hier gesprochen wird! Mit keinem Wort wurde hier der rechte Populismus, der Rassismus, der Sexismus, die Homophobie und der Antisemitismus der weißen amerikanischen Mehrheit erwähnt, die Trump gewählt hat. Der Mann ist ein Faschist!

 

Detlev:          (Belustigt) Das mag ja alles sein, aber schon daran, dass Du klingst wie der Prantl-Heribert merkt man, dass Deine Moralisiererei mit der Lüge verschwistert ist.

 

Ralf:              (Kleinlaut) So wie Prantl will ich natürlich nicht klingen, so ist es auch nicht gemeint. Das weißt Du selbst. Mir ist klar, dass man in Deutschland aufpassen muss, wann man wo wie spricht. Laut empirischen Umfragen ist der Antiamerikanismus in Deutschland in den letzten Jahren wieder angestiegen. Davon gilt es sich deutlich zu distanzieren!

 

Peter:             Da kann ich endlich mal zustimmen. Wir als Deutsche verdanken den Amerikanern viel. Deshalb müssen wir immer an der Seite Amerikas stehen, auch wenn der zu erwartende Isolationismus und Protektionismus unsere Partnerschaft vorübergehend belasten mag. Aber ich bin mir sicher, diese Phase geht vorüber, denn der Westen gründet schließlich auf gemeinsamen Werten. Unsere Bundeskanzlerin Angela Merkel muss jetzt klare Kante zeigen und Deutschland stellvertretend zum Anker dieser Werte in der Welt machen.

 

GWG:             Ich möchte nochmal aufgreifen, was Thorsten vorhin erwähnt hat: Trumps Verhältnis zu Putin. Wie kam es zu dieser Annäherung und wie schätzt ihr Russlands neu-alte Rolle als global player ein?

 

Detlev:          Etwas zugespitzt ausgedrückt: Wie Horkheimer kommt auch Trump aus der Geschäftswelt. Statt Ideologie zu betreiben kümmert sich der Kaufmann von Berufswegen um gute »Deals«. Trump mag zwar einige hässliche Aussagen getätigt haben, um gewählt zu werden, aber sein Naturell ist die Rationalität des Warentausches. Das verbürgt eine gewisse Restvernunft, die man Putin und unserer Flüchtlings-Merkel rundweg absprechen muss. Da stehen sich zwei Prinzipien gegenüber: Die Rationalität des Warentausches und das, was Adorno als Essenz deutscher Ideologie ausgemacht hat: eine Sache um ihrer selbst Willen zu tun. Also bürgerliche Zweckrationalität versus vorbürgerliche Willkür.

 

Markus:         Der Wert ist Identität und Identität ist Tod!

 

Detlev:          Ach, Du mit Deinem unverdauten Adorno. Fakt ist, dass Trump zwar eine unschöne Figur ist, aber die rechtsstaatliche Tradition Amerikas ihn letzten Endes überdauern, wenn nicht gar zähmen wird.

 

Peter:             Da kann ich nur zustimmen. Umso wichtiger ist es, dass Deutschland in Zeiten der Schwäche der NATO auch und gerade für seine osteuropäischen Partner ein verlässlicher Verbündeter ist.

 

Thorsten:      Ohne Amerika ist die NATO ein Papiertiger. Deswegen muss Deutschland seine Hausaufgaben machen und endlich mindestens 17,8% seines Bruttosozialproduktes in die Rüstung stecken.

 

Peter:             (Starkes Nicken.)

 

Ralf:              (Empört) Ist es wieder so weit, dass der deutsche Intellektuelle dem Krieg das Wort redet? Das lehne ich kategorisch ab, da mache ich nicht mit! Fehlt nur noch, dass ihr von »dem Russen« sprecht!

 

Detlev:          Nun, der Russe ist…

 

Thorsten:      (Fällt Detlev ins Wort.) Während Du Schattenkämpfe der Vergangenheit führst, hat Russland längst zusammen mit seiner Schachfigur Assad einen Genozid in Aleppo betrieben!

 

Joseph:           In Aleppo hat der Westen versagt, weil er keinen Begriff mehr hat vom Wesen der westlichen Souveränität. Was es bräuchte, wäre gewissermaßen eine Winston-Churchill-Lektüre mit den Augen Karl Marx’. Oder anders gesagt: Es gilt Woody Allen mit Sartre zu verbinden: Während jener wusste, dass gegen den Wahn keine Pamphlete helfen, sondern nur Baseballschläger, forderte dieser die »Liga gegen den Antisemitismus«. Es kommt also auf jeden einzelnen an, sich dem Wahn entgegenzustellen, der freilich objektive Ursachen hat.

 

Thorsten:      Als jemand, der regelmäßig konkret vor Ort ist, weiß ich, dass es viele Einzelne gibt, die helfen. Dieses Engagement wird viel zu wenig gewürdigt. Schau mal auf die Organisation »Ärzte ohne Grenzen«, die wirklich wertvolle humanitäre Arbeit leistet. Die helfen ganz konkret.

 

Markus:         (Singt Ernst Busch) »…das goldene Fettherz der Bourgeoisie…« Wenn ich Dich reden höre, werde ich ja fast rührselig. Sollen wir gleich noch Werbebanner mit dem Spendenkonto hochhalten?

 

Ralf:              Markus, das ist jetzt aber wirklich geschmacklos, zynisch und menschenverachtend. Du willst doch auch, dass den Leuten geholfen wird!

 

Markus:         Zynisch und menschenverachtend ist die deutsche Flüchtlingspolitik.

 

Detlev:          Du glaubst auch, dass jeder Mensch, der mit dem Schlauchboot in Lampedusa ankommt, ein guter Mensch ist, oder?

 

Peter:             Da kenn ich einen guten Witz: Was ist der Unterschied zwischen einem Flüchtlingsboot und schwarzem Humor? – Beide kommen nicht immer gut an!

 

Ralf:              Mir reicht’s gleich! Das ist ja unerträglich! Sind wir hier beim CDU-Stammtisch oder was?

 

Peter:             Schön wär’s.

 

GWG:             Das ist vielleicht ein guter Zeitpunkt, um über das Verhältnis von Innen- und Außenpolitik zu sprechen, zugespitzt in der Flüchtlingspolitik, die ja gewissermaßen einen Knotenpunkt zwischen beiden Sphären bildet.

 

Detlev:          Das ist ganz einfach: Ein souveräner Staat muss zur Not mit allen Mitteln seine Grenzen nach außen und innen verteidigen. Es war klar, dass ein Großteil der Flüchtlinge mit der westlichen Tradition des Rechtsstaates und der Aufklärung auf dem Kriegsfuß steht. Die bereits vor der Krise bestehenden Parallelgesellschaften und Enklaven antiwestlicher Gegensouveränität werden durch den ungehinderten und unbegrenzten Flüchtlingszuzug nachhaltig gestärkt. Deshalb ist die Forderung von Obergrenzen ganz vernünftig, auch wenn man vielleicht nicht unbedingt ein Freund kapitalistischer Verhältnisse ist. Der Islam ist gegenüber unseren freiheitlich-demokratischen Spielregeln eindeutig das größere Übel.

 

Peter:             Da kann ich nur zustimmen, aber erstens hat die Regierung inzwischen ja Maßnahmen ergriffen und zweitens würde ich bezüglich des Islam doch zur Differenzierung mahnen…

 

Ralf:              Differenzieren, genau!

 

Peter:             …man muss zwischen Islam einerseits und islamistischem Extremismus andererseits unterscheiden. Sonst haben wir den Generalverdacht und der ist aus guten Gründen verfassungswidrig. Der Islam ist durch das Recht auf Religionsfreiheit geschützt und das ist eine wichtige Errungenschaft unserer Demokratie. Der Islam ist ein Teil Deutschlands, aber das heißt natürlich nicht, dass unsere deutsche Leitkultur nicht maßgeblich durch das christlich-jüdische Erbe geprägt ist.

 

Ralf:              Nur dass diese Leitkultur alle Juden ermordet hat!

 

Joseph:           Touché, aber es war, genauer betrachtet, selbstverständlich nicht »die Kultur«, sondern die Masse der atomisierten Einzelnen, die sich zur Volksgemeinschaft formiert haben, um die Shoah ins Werk zu setzen. Das kollektive »Wir«, das Du, Peter, ständig im Munde führst, steht in dieser Kontinuität der Volksgemeinschaft, und sei sie auch noch so sehr demokratisch überlackiert. Die wirklichen Träger der vielgelobten deutschen Kultur waren in Deutschland die Juden. Und die haben die Deutschen nahezu ausgerottet.

 

Peter:             Aber es waren doch gerade auch Juden, die nach 1945 am Aufbau demokratischer Institutionen beteiligt waren. Insofern ist diese Tradition ja nicht abgerissen, sondern Teil der bundesrepublikanischen Identität. Und die gilt es heute gegen Verfassungsfeinde jeglicher Couleur zu verteidigen.

 

Detlev:          Da hast Du recht, aber indem Du Dich einer schlechten Totalitarismustheorie bedienst, verdreht sich das Richtige gleich in eine Lüge. Es muss gesagt werden, dass die rechtsstaatlichen Institutionen heute in erster Linie gegen den Islam und seine staatskritischen Verharmloser verteidigt werden müssen.

 

Joseph:           Du hörst Dich an wie Pegida.

 

(Detlev wirft Joseph einen verächtlichen Blick zu.)

 

Thorsten:      Ohne das Versagen des Westens wäre es nie zur Flüchtlingskrise gekommen. Gerade Angela Merkel hat sich durch ihre außenpolitische Passivität in dieser Hinsicht nicht mit Ruhm bekleckert.

 

Markus:         Ihr verhandelt hier doch Scheinfragen. Worum es gehen müsste, ist die Spaltung der Gattung, die durch die Produktionsverhältnisse, in politischer Hinsicht aber spiegelbildlich auch durch das nationalstaatliche Prinzip vollzogen wird. Ihr lasst euch auf dieses Spiegelspiel der Politik ein, anstatt es zu kritisieren. Damit habt ihr euren Verstand im Vorzimmer des Bundeskanzleramtes abgegeben.

 

Joseph:           Was Du sagst, stimmt. Einerseits. Andererseits verbleibt Deine staatskritische Bestimmung im Abstrakten: Wer über den latenten Ausnahmezustand zwischen den Staaten nicht sprechen will, soll auch von der Souveränität schweigen.

 

Markus:         Was interessieren mich die Konkurrenzverhältnisse zwischen Nationalstaaten, wenn ich meine Stromrechnung nicht bezahlen kann?

 

Ralf:              Womit erwiesen wäre, dass Du ein ordinärer Staatsfeind, vulgo: Antizionist bist.

 

Markus:         So ein Blödsinn, ich kann Israel doch gegen den Antizionismus verteidigen, ohne daraus zum Liebhaber des Staates zu werden! Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Nur weil ich dem Fetischismus des Staates nicht auf den Leim gehe, kann ich den Antizionismus radikal kritisieren.

 

Thorsten:      Dein Kritikastertum hilft aber Israel nicht. Das tun nur Sanktionen gegen den Iran – und nötigenfalls Marschflugkörper und bunkerbrechende Bomben. Das setzt einen Verteidigungshaushalt voraus, und der wiederum eine florierende Ökonomie und ein gutes Steuersystem.

 

Peter:             Also ein funktionierendes Staatswesen nach westlich-demokratischem Modell. Wer für Israel ist, muss ein Freund der westlichen Demokratie sein. Mitgliedsanträge für die CDU habe ich dabei.

 

GWG:             Aber können wir heute von so einem einheitlichen, rationalen Staatswesen überhaupt noch sprechen, wie es im Lehrbuch des Liberalismus ausgemalt wird? Ich spiele auf die Rackettheorie der Kritischen Theorie an. Ist diese angesichts der überall zu hörenden Forderung nach dem starken Staat zu verwerfen?

 

Detlev:          Auf keinen Fall, denn sie wurde ja in einer ähnlichen historischen Situation formuliert wie heute. Zwar ist heute der liberale Staat als unbedingte Voraussetzung besserer Zustände nicht mehr gegen die Nazis, sondern gegen den Islam zu verteidigen. Das Prinzip bleibt aber dasselbe: Nur ein Rechtsstaat, in dem die Verfahrensvorschriften und abstrakten Setzungen Willkür einhegen und begrenzen, kann eine wirksame Waffe gegen das Racket sein. Der Begriff ist kritisch gemeint, also als unbedingt zu verhindernde Auflösung des Gewaltmonopols und der demokratischen Institutionen in anarchische Vielfalt.

 

Ralf:              Du scheinst mir regelrecht besessen von der Gewaltfrage zu sein. Müsste es nicht mehr um den Kampf um die Köpfe gehen? Teile der Zivilgesellschaft sind Aufklärung und Kritik gegenüber durchaus aufgeschlossen. Unser Bündnis hat damit sehr gute Erfahrungen gemacht. Einmal hat sogar der WDR unsere Veranstaltungsreihe angekündigt und als – ich zitiere – »wichtig« bezeichnet. On Air. Unsere Arbeit erreicht viel mehr Leute als euer elitärer Radikalismus.

 

Joseph:           Euer Engagement in allen Ehren, aber ihr verdrängt das aufklärungsresistente Wesen des Antisemitismus, wenn ihr glaubt, ihn mit guten Argumenten entkräften zu können.

 

Markus:         Das gilt aber in anderer Weise auch für Dich, Detlev. So sehr ich mit Dir in Bezug auf die historische Kontextualisierung des Racketbegriffs übereinstimme, so sehr ist doch auch augenscheinlich, dass die Verdrängung des Wahns auch bei Deinem allzu harmonischen Begriff des Staates wirksam ist. Vielleicht war das bei Neumann und Kirchheimer auch schon so. Das Problem ist ja, dass es aufs Wollen allein nicht ankommt: Der Zerfall des Gewaltmonopols ist heute so wenig wie in den dreißiger Jahren ein Produkt des Zufalls oder der Entscheidung, sondern Ausdruck des kapitalentsprungenen Wahns.

 

Joseph:           Genau, aber damit doch auch wieder eine Frage der Entscheidung. Oder, um es mit Sartre zu sagen: der »Flucht vor der Freiheit«, also einer Nicht-Entscheidung. Das Individuum bleibt bei all dem irreduzibel. Daher bin ich in diesem Punkt durchaus bei Detlev: es kömmt darauf an, den Leviathan gegen den Behemoth zu verteidigen.

 

GWG:             Immer wieder tauchte nun das Verhältnis von Individuum und Objektivität, also implizit auch das Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft, zum Fetischcharakter der Ware, zur Ideologie, zum Wahn, zum Antisemitismus und so weiter auf. Etwas ketzerisch gefragt: Inwiefern kann oder muss das beschädigte Individuum überhaupt noch Bezugspunkt der Kritik sein?

 

Detlev:          Wer diese Frage stellt, ist schon vom postmodernen Virus infiziert. Selbstverständlich ist das Individuum – gerade weil es so beschädigt ist – immer gegen den Zu- und Übergriff des Objektiven zu verteidigen. Sonst macht man sich mit den geistigen Brandstiftern, die sich den »Tod des Subjekts« auf die Fahnen geschrieben haben, gemein.

 

Peter:             Ich verstehe die Frage nicht.

 

Thorsten:      Es geht darum, denen, die von repressiven Regimen unterdrückt werden, zu helfen und die internationale Gemeinschaft auf ihr Leid aufmerksam zu machen.

 

Peter:             Ach so.

 

Joseph:           Nein, die Frage ist, ob nicht das Individuum von den Verhältnissen erdrückt wird. Das evoziert aber die Frage, wie die Verhältnisse, die ja als »stummer Zwang« auftreten, das tun? Wir befinden uns ja metaphorisch gerade im Nebelreich der Religion mit ihren theologischen Mucken. Freud und seine Schüler Adorno und Horkheimer haben darauf hingewiesen, dass der Einzelne sich selbst – und das heißt nicht zuletzt: seinem individuellen Leib – tagtäglich antut, was die Gattung als Ganze im Zivilisationsprozess erleiden musste. Wenn wir daher vom Individuum sprechen, kann es sich nur um einen Residualbegriff handeln, einen Rumpfbegriff gewissermaßen.

 

Markus:         Ja, aber bei Dir klingt es jetzt so, als sei die Form der Individuation eine Naturnotwendigkeit. Wir müssen aber über den gesellschaftlichen Stoffwechselprozess mit der Natur sprechen, also über Herrschaft und Ausbeutung. Der Einzelne verlängerte die Lohnarbeit ins Private, objektiver Zwang ist die Voraussetzung für die Selbstzurichtung des Einzelnen. Deshalb ist es ja eine Lüge, wenn die Priester der Marktwirtschaft predigen, der Kapitalismus sei so prima für das Glück des Einzelnen. Es komme eben auf den Einzelnen an, ob er Schmied seines Glückes werden wolle oder nicht.

 

Peter:             Niemals gab es mehr Freiheit und Wohlstand als in der sozialen Marktwirtschaft. Alle Utopien haben zu Willkür und Armut geführt.

 

Joseph:           Das ist so, leider. Aber es heißt nicht, dass es für immer so bleiben muss. »Where everything’s bad, it’s good to know the worst«, aber zugleich: It’s still bad. Außerdem ist das Schlechte eben auch die Voraussetzung für das Schlimmste.
GWG:             Dies scheint mir ein gutes Schlusswort zu sein. Vielen Dank für die erhellenden Antworten.

Jonas Fedders plädierte kürzlich in der Jungle World (42/2016) für eine „emanzipatorische und demokratische Auseinandersetzung mit der muslimischen Religion und dem politischen Islam“ und stellte dieser den von uns mit unterstützten Aufruf zur vor über zwei Jahren in Köln stattgefundenen Demonstration „Es gibt kein Menschenrecht auf Israelkritik!“ gegenüber. Der Aufruf erinnere, so raunte Fedders, an „kulturellen Rassismus“. Es ist mittlerweile ein altbekanntes Spiel: Wer das Elend der real existierenden muslimischen communities und der islamischen Welt insgesamt benennt, wird mit Pegida, AfD oder Schlimmerem gleichgesetzt. Im Resultat wird damit verhindert, dass die empirisch zweifelsfrei belegbare Affinität des zeitgenössischen Islam zu Judenfeindschaft und Christenverachtung, zu homophoben und sexistischen Einstellungen, zu Verschwörungstheorien und Omnipotenzfantasien überhaupt diskutiert, geschweige denn politisch bekämpft wird. Warum gerade Linke sich dem Engagement gegen die Islamkritik so sehr verschrieben haben, lässt sich eigentlich nur dadurch erklären, dass sie – insgeheim oder offen – glauben, „Schnittmengen“ (Oskar Lafontaine) zwischen Islam und linker Politik ausmachen zu können. Andernfalls bliebe nur noch eine psychologische Erklärung übrig: Identifikation mit dem Aggressor, Feigheit vor dem Feind, vorauseilende Kapitulation.

Wie auch immer es sich im Falle Fedders’ verhält, jedenfalls schreckt er nicht davor zurück, die dümmsten aller Begründungen anzuführen, warum der genannte Demonstrationsaufruf politisch und moralisch indiskutabel sei: Erstens sprächen wir von „dem Islam“ und essentialisierten damit ein so wunderbar vielfältiges – ja, was eigentlich? – Phänomen, zweitens ersetzten wir den alten Rassebegriff durch den der Kultur. Es handelt sich hierbei um die inzwischen klassisch gewordenen Argumentationsmuster der antiislamophoben Ideologen. Da sich in Fedders’ Text all das verdichtet, was gefühlte 300 Sammelbände aus dem Bielefelder Transcript-Verlag immer aufs Neue breittreten, eignet er sich hervorragend, um die theoretischen Annahmen einer ganzen Szene auf den Prüfstand zu stellen.

Vorwurf 1, die „Essentialisierung“, klingt zunächst gelehrt, entpuppt sich aber bei näherer Betrachtung als siebengescheiter Hinweis auf die Tatsache, dass es im Islam verschiedene religiöse Strömungen gibt, dass die islamische Welt sich nicht auf Saudi-Arabien beschränkt und es politische Kämpfe zwischen unterschiedlichen Fraktionen, Gruppen und Staaten gibt. Keinen einzigen Jungle World-Leser wird das überraschen und vermutlich auch 95% aller Bild-Leser nicht. Aber was bedeutet die Feststellung der Vielfältigkeit und Widersprüchlichkeit politisch? Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder man zieht aus ihr den Schluss, dass der Begriff „Islam“ überhaupt nichts erklärt (dann würde man das Selbstverständnis der meisten Muslime ignorieren), oder man hält fest, dass es trotzdem etwas die verschiedenen, sich auf den Islam beziehenden Personen und Kollektive Verbindendes gibt, das ihr Handeln, Denken und Fühlen beeinflusst. Fedders ist positiv anzurechnen, dass er seinen eigenen Antiessentialismus nicht ernst meint, denn er fordert ja selbst eine „Kritik der muslimischen Religion“. Damit hält er fest, dass es tatsächlich eine „Essenz“ oder ein „Wesen“ des Islam gibt – der positive Bezug auf mehr oder weniger als sankrosankt geltende Schriften (Koran, Hadith) und, noch wichtiger, die Verherrlichung des Propheten Mohammed. Dass die Auslegung der Schriften wie in jeder anderen Buchreligion umkämpft ist und die reine Lehre nicht unbedingt mit der gelebten Religion identisch ist, versteht sich von selbst, aber daraus den Schluss zu ziehen, es gebe den Islam überhaupt nicht, ist so hanebüchen, als wolle man behaupten, es gebe das Auto nicht, nur weil neben VW und Mercedes gelegentlich auch noch Cadillacs auf Deutschlands Straßen gesichtet werden. Oder, auf eine geistigere Sphäre übertragen: Man kann Ludwig Feuerbachs epochalem Werk Das Wesen des Christentums viel vorwerfen, aber nicht, dass es sich an einer Ideologiekritik des Christentums versucht. Auch Feuerbach war bekannt, dass das Christentum kein „monolithischer Block“ ist, sondern sich neben Katholizismus und Orthodoxie auch noch Dutzende kleine Protestantismen unter dem Banner des Christentums tummeln, aber es hat ihn nicht davon abgehalten, das Christentum als verzerrte Projektion menschlicher Bedürfnisse zu dechiffrieren. Von den Fedders’ dieser Welt hingegen, die wohlfeil eine „Religionskritik“ des Islam fordern, hört man zu diesem Punkt erstaunlich wenig. Wenn sie es doch so wichtig finden, die islamische Religion zu kritisieren, warum tun sie es dann zur Abwechslung nicht einfach mal?

Fedders’ zweiter Vorwurf – den, wir ersetzten angeblich den Begriff der „Rasse“ durch den der „Kultur“– schließt direkt an den ersten an: Jeder, der sich sprachlich äußert, hat das Problem, das, worüber er spricht oder schreibt, zu bezeichnen. Wenn es sich aber nicht um bloße Namen handeln soll – Nominalismus ist in letzter Konsequenz Willkür und führt dazu, dass Menschen sich nicht mehr verständigen können –, sondern das Wort etwas von der Sache erfassen soll, haben wir es mit Begriffen zu tun. Wer den Islam begreifen will, muss sich also begrifflich festlegen. Fedders hat das getan: Er sagt, der Islam sei eine Religion. Darüber, wie sinnvoll diese Aussage ist, kann man sicherlich streiten, aber man sollte sich zumindest darüber im Klaren sein, dass der Begriff „Religion“ historisch westlichen Ursprungs ist und im 19. Jahrhundert maßgeblich von protestantischen Intellektuellen popularisiert wurde. Die islamische Tradition jedenfalls sieht in der Umma weit mehr als eine Glaubensgemeinschaft – eine vor allem durch gemeinsame politische und rechtliche Normen zusammengehaltene Gemeinde, deren Grundlage zwar ein religiöses Bekenntnis (im Sinne eines spezifischen Transzendenzbezuges) ist, die in diesem Bekenntnis aber nicht aufgeht. Da es sich bei der Trennung von Religion und Politik um ein modernes Phänomen handelt, ist unbestreitbar, dass die Gesellschaften, in denen der Islam über Jahrhunderte die Grundlage des menschlichen Zusammenlebens bildete, eine eigene islamische Kultur herausgebildet haben – wie die christlichen Gesellschaften eine christliche. Der etwas schwammige Begriff „Kultur“ meint hier zunächst nichts anderes als einen Komplex von Moralvorstellungen, Herrschaftsverhältnissen, Eigentumsordnungen, religiösen Sinnstiftungen, Kommunikationsformen, Geschlechterbeziehungen und vielem mehr. Diese Kultur lässt sich selbstverständlich nicht eins zu eins aus dem Koran „ableiten“, entwickelt sich aber in kontinuierlichem und fraglosem Bezug zur religiösen Überlieferung. Jedem vormodernen Muslim war das ganz selbstverständlich, wie sogar noch an den aristotelischen Philosophen des Mittelalters erkennbar ist.

Man kann diese Beziehung zwischen Religion, Politik und Kultur auf die christliche Welt übertragen, allerdings nur dann, wenn man nicht vergisst, dass „Religionen“ erstens nur durch begriffliche Operationen strukturidentisch sind, nicht aber inhaltlich dasselbe predigen (etwa bezüglich der Beziehung zwischen Mensch und Gott, Leben und Tod, Reinheit und Unreinheit etc.), und zweitens die historische Entwicklung der islamischen und der christlichen Welt nur zum Teil parallel verlaufen ist. Dieser zweite Aspekt sollte nicht dazu verführen, einen abstrakten Gegensatz zwischen Orient und Okzident aufzumachen, aber es werden im christlichen Europa nun mal keine Homosexuellen an Baukränen erhängt und auch keine wegen Ehebruchs verurteilten Frauen gesteinigt.

Konsistent ist das nicht: Wo erst die blühende Vielfalt des Islam heraufbeschworen wurde, herrscht plötzlich nur noch Identität – alles dasselbe. Ein bisschen dialektischer darf’s dann schon sein, und gerade jemand, der sich auf Adorno bezieht, sollte die Frage nach der Einheit des Ganzen stellen. Die Antwort ist altbekannt: es ist der Wert als negative Synthesis, der die Individuen, Kollektive und Gesellschaften durch die radikale Enteignung des gesellschaftlichen Reichtums und die Verselbständigung seiner Formen, also durch die allseitige Lebensnot aufeinander bezieht. Entscheidend ist nun aber, wie die Einzelnen mit dieser totalen, negativen Vermittlung umgehen, die für sie die Perpetuierung von Existenzangst und Panik bedeutet. Es ist die älteste Funktion von Religionen, sinnstiftende Antworten auf das irdische Elend zu geben. In diesem Sinne ist die islamische Religion eine Ideologie, wie es auch in dem von uns mit unterstützten Aufruf heißt: „Der Islam ist keine schützenswerte Kultur, sondern eine furchtbare, autoritäre, gnadenlose Ideologie“. Fedders leitet seinen Text sogar mit diesem Satz ein, nur um uns kurz darauf in unredlicher Weise vorzuwerfen, wir betrachteten den Islam als unveränderbare metaphysische Essenz.

Genau hier, bei der Kritik des Islam als einer Ideologie, die spezifische Sinnstiftungen vermittelt und daraus Handlungsanleitungen für den Alltag generiert, müsste Fedders mit seiner geforderten „Religionskritik“ ansetzen. Doch nicht einmal die pseudokritischen Phrasen von Priestertrug bis Illusion spult er ab – lieber kneift er vor der Aufgabe, die wichtigste Antriebskraft für die konzedierten „im Namen von Allah tagtäglich [begangenen] zahlreiche Gräueltaten“ ins Visier der Kritik zu nehmen: den Islam. Stattdessen bewirft er andere mit Dreck, die sich vom gesellschaftlichen Gegenwind nicht abhalten lassen und immer noch davon überzeugt sind, dass man Menschen durch Kritik überzeugen und von ihrem Tun abhalten kann. Und dies gilt weniger für die Islamisten als vielmehr für diejenigen, die aus Furcht oder Opportunismus das Problem wegdifferenzieren wollen.

[1]

Postmoderne Ideologie ist der „Geist geistloser Zeiten“ (Marx) auf dem aktuellsten Stand. Die Idee einer versöhnten Menschheit wird von Stichwortgebern des liquidierten Denkens bewusst preisgegeben. Ebenso verhält es sich mit jeglichem Anspruch, die Wirklichkeit noch irgend adäquat mittels triftiger, reflektierter Begriffe zu beschreiben. In Köln zeugt davon die 2012 ins Leben gerufene Akademie der Künste der Welt, deren Festival Pluriversale dieses Jahr in die zweite Runde geht. Nicht nur bei der Namensgebung des Festivals bediente man sich der Terminologie Carl Schmitts, der den Ausdruck “Pluriversum” prägte, um auf gebildet „Jedem das Seine“ zu dekretieren. Das „interkulturelle und interdisziplinäre Veranstaltungscluster“ folgt dem Kronjuristen des Dritten Reiches auch inhaltlich, wenn im Programmheft jede universelle Weltsicht als „flach“ und „westlich“ denunziert wird – also mit den in solchen Pamphleten unvermeidlich auftauchenden, hohlen Kampfformeln von Neoliberalismus und Kolonialismus. Dem vorgeblich die Völker der Welt knechtenden westlichen Blick wird ein „pluriversaler“ Antiimperialismus entgegengestellt, dem „geteilte Geschichten und Kosmologien“, mithin „verschiedene ‚Welten‘“ zugrunde liegen sollen, welche trotz ihrer Inkommensurabilität durch ihre „kritische und widerständige Haltung gegenüber der Machtverteilung einer einzelnen Moderne und ihres universalen Anspruch“ zusammengehalten werden.

Diese Sicht auf die Welt wird durch die formale wie inhaltliche Ausgestaltung der Pluriversale II wiedergegeben: Der beflissene kulturpolitische Jargon ihres Programmheftes plaudert beredt die Situation der Kunst und überhaupt des intellektuellen Lebens im nachbürgerlichen Zeitalter aus. Der exzellenzbegierige Leser, von den Veranstaltern des Spektakels zu Recht für dumm verkauft und dementsprechend im Programmheft von ihnen vollgetextet, darf sich auf „prominente Kuratoren aktuell stattfindender und demnächst anstehender Ausstellungen rund um den Globus“ freuen, welche „die Vorzüge und Fallstricke der Globalisierung von Kunst und ihrer wachsenden Einbindung in lokale Kontexte“ erörtern werden. Der höhere Blödsinn dieser Ankündigungen dient dem braven Ziel der Akademie der Künste der Welt: Das „emanzipatorische Potential“ authentischer Kultur soll freigesetzt und in den Dienst des Gemeinwohls gestellt werden. Was hier mit „emanzipatorisch“ genau gemeint ist, scheint bei den Diskursanten dem elementaren Bauchgefühl zu folgen. Die unter jahrelangem professionellen Abgreifen öffentlicher Gelder eingeübte Chuzpe ist ihnen dergestalt in Fleisch und Blut übergegangen, dass jede Explikation ihres plump pädagogischen Aktionismus überflüssig wird. Es tritt vor allem deutlich vor Augen, dass es den Machern der Pluriversale II weder um den Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit noch um die Aufhebung der Herrschaft von Menschen über Menschen geht, sondern um die „emanzipatorische“ Liquidation aller unabgegoltenen Anforderungen und Ansprüche des aufgeklärten Denkens.

Ein nach politischen Maßnahmen dürstender Eskapismus sucht fortwährend Updates des offiziellen Vokabulars durchzusetzen, um der diagnostizierten „Überdeterminierung“ Herr zu werden. Doch die nicht weniger herrschsüchtigen Neu-Determinierungen, die in postmodern inspirierten Kampagnen durchgesetzt werden oder es noch sollen, verstricken sich nur umso hoffnungsloser ins alte Handwerk der Entmündigung des Mitmenschen. Die permanente Reinschrift kann die dreckige Wirklichkeit nicht verbessern, der unaufhörliche Exorzismus soll die durchherrschte Sprache von abgelaufenen Vorurteilen reinigen und so die Instrumentalisierung exkulpieren, der doch all die bad words enstspringen. Beim Schönreden nichtweißer Authentizität werden die nunmehr erneut brauchbar gemachten Kollektivzuschreibungen hinterrücks nur tiefer als community zementiert. Selbst der Unterstützung würdige sprachpolitische Kampagnen gegen menschenverachtendes Reden erwiesen sich stets als weiterer Zugriff der Macht über die Einzelnen. Wenn also seitens angeblich fortschrittlicher Kreise derzeit unbeirrbar und stereotyp vom bösen Westen und dem tragisch verkannten Orient die Rede ist, liefert solch gutgemeintes Argumentieren die Individuen noch gnadenloser ihren als „widerständig“ akkreditierten Identitäten aus. Postmodern neu validiert und politisch geupdatet, wird den Einzelnen ungefragt die unverfrorenste Heteronomie übergestülpt.

Wären tatsächlich gesellschaftliche Hierarchien der zentrale Kritikpunkt postmoderner Diskurse, und ginge es etwa tatsächlich um die Menschen, die in Rufweite der Küsten Europas ertrinken, weil sie das westliche Versprechen auf ein Leben jenseits „pluriversaler“ Banden- und Stammesstrukturen praktisch auf die Probe stellen mussten, müsste man eben jenen Westen zuallererst dafür kritisieren, dass er seine Verheißungen von Freiheit, Gleichheit und Glück nie einhielt und auch nicht einhalten kann. Stattdessen müssen die Hungernden und Flüchtenden als authentizitätstriefende Projektionsfläche engagierter Kulturfuzzis herhalten, indem sie zur widerständigen und antiwestlichen multitude stilisiert werden. Die Motivation der Initiatoren der Pluriversale II mag auf einer nicht zuletzt karrieristischen Ebene angesiedelt sein. Doch die von ihnen emsig produzierte Gebrauchsideologie wäre umso mehr als der Abdruck allgemeiner, objektiver Sachzwänge in ihrem Bewusstsein zu verstehen. Die „nomadische Institution“ treibt nicht der Wunsch nach Analyse und Kritik der herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern das uneingestandene Empfinden von Überwältigung. Sie suchen letzterer durch Identifikation mit der glücksnegierenden Macht, schließlich durch ihre radikale Überbietung Herr zu werden.

Wegen des Empfindens von Ohnmacht kann angesichts der herrschenden Verhältnisse freilich niemandem ein Vorwurf gemacht werden, denn jeder Einzelne sieht sich tatsächlich aufgrund seiner objektiv drohenden Überflüssigwerdung durch abstrakte und unpersönliche Mechanismen gefährdet. Die Ausrufer des pluriversalen clusterfuck aber lassen sich von ihrer Ohnmacht dumm machen, indem sie sich diese nicht eingestehen und reflektieren, sondern aktionistisch gegen die unschmeichelhafte Erfahrung anrasen und dabei wild performend um sich schlagen. Ihre Trotzreden voller Beteuerungen und Durchhalteparolen gegen die Macht „der – immer stärker überdeterminierten – Vergangenheit und Zukunft“ sind zutiefst resigniert. Ihr Furor gründet in der Kränkung und der Angst der Einzelnen, die ihre eigenen Geschicke unter der Herrschaft des launischen Kapitals – anders als vom liberalen Maulheldentum suggeriert – nicht in den eigenen Händen halten. Ihre Sehnsüchte nach Freiheit und Glück sind unerfüllt geblieben, scheitern unter Versagungen und Regressionen. Anstatt sich dieser Einsicht zu stellen, flüchten die Macher der Pluriversale II in irgendeine, ihnen Halt und Bedeutung verleihende Identität, in den ausgeliehenen mentalen Status unterdrückter Kolonialvölker. Und mancherorts entstehen tatsächlich neue Potentiale unbelasteter Völkerverständigung: Die von den Postmodernen propagierte Verwerflichkeit aller westlichen Bildung findet – „sie wissen das nicht, aber sie tun es“ (Marx) – eine exakt sinngemäße Übersetzung durch den Haussa-Kampfnamen „Boko Haram“ – wenngleich in Nordnigeria der Weltöffentlichkeit weit größere und weit effizienter ausgerüstete happenings als im postmodernen Köln präsentiert werden.

Aus dem Ankündigungstext lässt sich extrapolieren, womit zuschauerseitig zu rechnen sein dürfte: Gelangweilte, vereinsamte, panikaffine Überflüssige werden sich auf eine gemeinsame Kaffeefahrt in geistloseste Einöde hinausbegeben. Sie werden zuhauf ins zwote Pluriversum strömen, zwecks günstigen Erwerbs einer möglichst distinguierten, hybrid changierenden Identität, der man vor allem nicht sofort ansehen können soll, dass auch sie von der Stange ist. In der Regel werden sie nur allzu bald dazu bereit sein, sich von ideologischen Heizdeckenverkäufern allerlei schlampig zusammengeschusterten, antiwestlichen Ramsch andrehen zu lassen.

Das auf städtische und größere Tröge spekulierende Personal der Pluriversale II hat ohrenkitzelnde Frechheiten und Barbaritäten abzuliefern. Im schlimmsten denkbaren Sinn soll so auch die Weltläufigkeit des so korrupten wie biederen Provinznestes bekundet werden. Die einbestellte Kreativität entblödet sich nicht, eine von eigenen, unbewussten Wünschen umgeisterte „Suche nach einem Standpunkt außerhalb eines ‚flachen’, sich universalistisch gebenden ‚Globalismus’“ auszurufen. In der politischen Realität hat immer schon die größte Flexibilität bestanden, wo es um Krisenmanagement ging. Durch zahllose Kassenstürze geschult entstand im Tagesgeschäft der Zuteilungen und Vorenthaltungen ein versiertes, längst schon postmodernes Technokratenpersonal, das jeden neuen Ruck durchs Land den zum lebenslangen Lernen verurteilten Bürgern zungenfertig zu verkaufen weiß. “Verdamp lang her” (Niedecken), dass sich noch jemand weniger um die Wirkung als um den Sinn seiner Worte schert. Das Mäzenatentum durch die Sparkasse Köln und anderer Botenjungen des Sachzwangs passt wie die Faust aufs Auge zur postmodernen Kirmes. Die ideologischen Hofnarren haben freilich ein viel vorteilhafteres Bild von sich selbst, denn sie wähnen sich als genialisch Entkommene, die einen panoptischen Standpunkt „außerhalb“ eingenommen haben. „Aber der Mensch, das ist kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen“ (Marx), möchte man solchen Geistestitanen auf den frei schwebenden Astralleib tätowieren. Wie Gott höchstselbst wollen diese pluriversalen Flachzangen jenseits der westlichen und auch aller anderen Welten thronen, hoch über allem menschlichen Geschäft. Vom luftleeren Orbit ihres Wunschdenkens aus verkünden sie, der kapitalistischen Totalität die Idee einer von engagierten Künstlern voluntaristisch auf Vordermann gebrachten Welt entgegenstellen zu wollen. Das Realitätsprinzip verabschiedet sich zuverlässig dort, wo der eigene desolate Status ideologisch aufgewertet wird. Niemand soll die Triftigkeit eigenen oder fremden Geschwätzes noch nachprüfen dürfen.

Wie bei postmodernen Veranstaltungen üblich, geht es um den Abgesang auf das mit dem Abendland  identifizierte begriffliche Denken. Die geschäftigen Ministranten des Zeitgeistes haben seinen leisesten Wink erkannt und ebnen jegliche Vermittlung zwischen Subjekt und Objekt ein. Sie tragen also auch die Hoffnung zu Grabe, dass die Menschen besser als ihre Kultur sein könnten. Wenn etwa pars pro toto Sina Seifee „Einmann-Symposien“ performen möchte, „die [dem] Gedankenfluss keine Grenzen setzen“, soll sich dergestalt dem Abschnurren des Wahns in den solipsistischen Ich-AGs nichts mehr störend in den Weg stellen. Mittels solcher Performanzen reduziert das sich eifrig belügende Subjekt die Außenwelt zum bloßen Stichwortgeber seiner Willkür. Die zuschanden gewordene Sehnsucht nach Autonomie vermag nur noch neue Heteronomien herbeizuträumen. Die Ohnmacht wird zur Allmacht des die Welt gestaltenden Künstlers umgemünzt. Man sieht sich natürlich trotzdem ständig mit einer unnachgiebigen Realität konfrontiert, die schon so manchen kokainösen Machtrausch flugs auf den harten Boden der Tatsachen zurückholte. Der als Blauhelm der Ästhetik Einberufene „beharrt“ auf seinem „Recht“, wie einst in der Maikäfergruppe unter der Obhut kindgerechter Pädagogen „frei, phantasievoll und spielerisch“ zu sein.

Die gefälligen Provokationen der Pluriversale II kündigen sich schon in den Textabgründen des Programmheftes an. Mit der notwendig resultierenden Frustration wächst der Hass auf den absoluten Feind, auf die Anmaßung der Vernunft. Der Wille zum Wahn eint ruhmsüchtige Kuratoren, Kulturförderer und -produzenten, vegane Pfaffen und Anti-Sex-League-Schergen, kunstpolitische Bescheidwisser und marxistische Restpostenverkäufer. Namentlich alle stets dem nächsten kommenden Aufstand entgegenfiebernden Banden dürfen sich eingeladen fühlen, in die Denunziation der „offiziösen Rhetorik einer universell gültigen und simplifizierenden Trauer“ mit einzustimmen. So kaltschnäuzig beschreibt das Programmheft die geplante Gedenkperformance zum dschihadistischen Blutbad gegen Charlie Hebdo. Die von der gleichen Terrorzelle zeitgleich ermordeten Juden sind längst „frei, phantasievoll und spielerisch“ aus dem schönen neuen Narrativ des Programmheftes gelöscht worden. Dafür spricht man mit lüsterner Faszination vom Nahen Osten – „de[m] Fokus diesmal“ – von der „Neuen Welt(un)ordnung am Horizont“, welcher zuviel Kohärenz beanspruchende „reduktionistische Begriffe“ beizukommen nicht in der Lage seien.

Solche Diskurse beschwören die unvermittelte Gewalt als Mittel intersubjektiver „Verständigung“. Daher darf ausgerechnet der Feuilleton-Islamist Pankaj Mishra die Keynote-Rede halten. Er wird dem Leser allen autoritären Ernstes als schlichtweg „einflussreicher Autor“ vorgestellt, der auch schon für die New York Times oder den Guardian schrieb. Mit einer Aufgeregtheit, in der wohl noch die Höhe seiner Gage nachklingt, wird seine geistige Exzellenz herumgereicht wie ein Wanderpokal. Seine hanebüchenen Gedanken beschädigen am Ehesten die intellektuelle credibility der linksliberalen angelsächsischen Presse. Diese druckt ihn ab, um dem von ihr propagierten Isolationismus Amerikas weiter das Wort zu reden, der bereits jetzt schon 100%ig autochthone Morde, Folterungen und Vergewaltigungen über Hunderttausende von Menschen gebracht hat. Relativ sicher vor den Interventionen westlicher Arroganz blühen im US-hinterlassenen Machtvakuum veritable Pluriversa auf: Hinrichtungsplätze, Folterkammern und Sklavenmärkte bringen die isolationistische Flucht vor der Verantwortung zynisch auf den historischen Tiefpunkt. Die gerne subversiv auftretenden Postmodernen liefern den Realpolitikern in Wahrheit genau die relativistischen Ausreden, die sie dazu benötigen, wie sich etwa an Barack Obamas Antrittskapitulation in Kairo leicht nachweisen lässt.

Mishra beschwört in seinem europäisch preisgekrönten Großessay Aus den Ruinen des Empires die Gesinnung der „intelligentesten und sensibelsten Völker des Ostens“[2] und bedient alle antiwestlichen Ressentiments der pluriversal Kulturschaffenden. Der Entdecker und Förderer der Antisemitin Arundhati Roy proklamiert, dass „der Westen nicht länger Quelle guter und schlechter Dinge [ist], reich an materiellen Vorzügen, aber seicht im spirituellen Bereich; er muss vielmehr gänzlich verworfen werden.“

Die deutschen Vorfahren der Akademiemitglieder wussten sich auch mit ihren Kollaborateuren zumindest darin einig, dass wurzellose Juden die Völker vergifteten. Die postnazistische Gesinnungsgemeinschaft weiß sich heute mit Pankaj Mishra darin einig, dass die Gründung des Staates Israel das ärgste, am dringendsten zu sühnende Verbrechen des Westens darstellt. Mishra zufolge ist „die Schaffung einer aus europäischen Siedlern bestehenden Nation im Nahen Osten“ nichts als schiere „rassistische Arroganz“. Von der Shoah macht Mishra immer nur die beiläufigste Erwähnung und bleibt dadurch jener schwerwiegenden Implikationen ledig, die seinen deutschen Gastgebern die „berechtigte Israelkritik“ so erschweren, was ihm den Ehrenplatz als rassisch unbedenklicher Kronzeuge auf ihrem Symposium verschafft. Den „‚jüdischen Staat’“ weiß Mishra wie alle Antisemiten zwischen bannende Anführungszeichen zu setzen, die eine ähnliche Funktion wie Knoblauchknollen im Hinblick auf Vampire erfüllen sollen. Mishras sonst eifrig bemühter Anschein um historische Genauigkeit blamiert sich gerade im Hinblick auf Israel. Er sieht darin nur eine bloße „Scheindemokratie“, eine restlos durch „autoritäre Führer, antidemokratische Strömungen und rechten Extremismus definierte Politik“. Kein Wort zur historischen islamischen Kollaboration mit dem Nationalsozialismus, kein Wort zum islamischen Antisemitismus, welcher alles Jüdische als böse wie auch alles Böse als jüdisch halluziniert und nur durch die israelische Militärmacht daran gehindert wird, seinen metaphysisch begründeten Vernichtungswillen umzusetzen. Mishras ruinöser Antiimperialismus hüllt sich in einen pseudofaktisch-wissenschaftlichen Tonfall und tut doch dabei nichts anderes, als um abendländisches Verständnis für den Wunsch nach „Rache des Ostens“ zu werben. Den von ihm begeistert verstandenen Dschihadisten überlässt er es dann, die Vernichtung Israels ausdrücklich zu fordern. Es ist Mishras methodische Taktik, als lediglich referierender Chronist unterdrückter kolonialer Stimmen aufzutreten, die er durch sein geschicktes Zitieren wortlos affirmiert. Stimmen etwa wie die Dschamal al-Afghanis, Wegbereiter des politischen Islam, oder Sayyid Qutbs, geistiger Begründer der Muslimbruderschaft. Diese und andere Wortführer der Barbarei bestimmten die totale Kriegserklärung gegen Ungläubige im Allgemeinen und gegen die Juden im Besonderen als das zentrale Moment ihrer postkolonialen Gemeinschaftsstiftung. Pankaj Mishra bringt die programmatische Forderung des Akademiemitglieds Mark Terkessidis auf den antizionistischen Punkt, nach welcher das „Gebot zur Kollaboration“ etwas diffus „den ehrlichen Willen zur Mitgestaltung, ein utopisches Moment“ berge. Mishra wird den Besuchern gerne erklären, mit wem sie alles zu kollaborieren haben, um den völkerversöhnenden Hass mitgestalten zu können. Seine Utopie beinhaltet notwendig die Elimination der noch bürgerlich vermittelten Gesellschaft. Hierzu soll blutige Rache an denen zelebriert werden, deren schiere Existenz mit der westlichen Vermittlung und Abstraktion konnotiert ist.

Die Akademie der Künste der Welt lud Mishra ein, ihre antizivilisatorischen Bedürfnisse zu bedienen. In Zeiten antisemitischer Hochkonjunktur verunglimpft ihr Gründungsmitglied Tom Holert in einem Gespäch auf der Website der Akademie Israel als einen der „rivalisierenden Faschismen“, welcher „wieder einmal den Gazastreifen platt gemacht“ habe. Es ist selbsterklärte Aufgabe der Akademie, jede Islamkritik als Rassismus zu ächten, wie es jüngst Stephan Weidner, ebenfalls Gründungsmitglied, einmal mehr tat. So erweist sie sich als wahrhaft deutsche Kulturinstitution. Der Akademie der Künste der Welt geht es nicht um die Erniedrigten, Geknechteten, Verlassenen, Verächtlichen, sondern um ein Bündnis der selbstherrlichen Subjekte für die Befreiung der Menschheit von jeder Möglichkeit von Vernunft und Aufklärung.

[1]     Sofern nicht anders gekennzeichnet, sind alle Zitate dem Programmheft der Pluriversale II oder der Internetseite der Akademie der Künste entnommen.
[2]     Alle Zitate von Pankaj Mishra stammen aus seinem Buch Aus den Ruinen des Empires. Die Revolte gegen den Westen und der Wiederaufstieg Asiens, Frankfurt 2013, sowie seinem Essay Das westliche Gejammer, aus Die Zeit vom 13.09.2014.

DRUCKVERSION

Manche kennen es noch aus der Schule: Auch wenn es in den naturwissenschaftlichen und exakten Fächern mit den Noten mau aussieht, gibt es immer noch die Chance, in den sogenannten Laberfächern wie Religion, Sozialkunde und z.T. auch Deutsch durch andauernde Wortmeldungen und eifrige Unterrichtteilnahme zu punkten, ganz gleich, was für dummes Zeug man dabei vorbringt. Die fünf in Mathe wird dadurch freilich nicht verschwinden. Dieser versuchte Ausgleich unangenehm harter Fakten durch soft skills liegt auch einer ganzen Reihe anderer Phänomene zugrunde. Etwa der Neigung politisch und ökonomisch Verunsicherter zu Esoterik, Sensibilisierungsseminaren, Gruppentherapien und Lebensratgebern aller Unart. Jede Bahnhofsbuchhandlung wartet mit einem Schwall von bestenfalls populärwissenschaftlichen bis komplett hanebüchenen Büchern und Zeitschriften auf, die sich der Sinnkrisen der Reisefertigen mit freundlich-forschen Aufmunterungen zum richtigen Essen, Reisen, Kaufen, Atmen, Denken, Lieben und Leben annehmen. Der Markt für solche postreligiöse Erbauungsliteratur scheint schier unerschöpflich, was nicht zuletzt an der Raschheit liegt, mit der die angebotenen moralischen Wegweiser verwittern und druckfrischen Motivationsnachschub nötig machen.

weiterlesen